Digitale Festschrift 50 Jahre isa – Von Überfremdungsängsten bis zu den heutigen Integrationsbestrebungen

Wie die Ausländerpolitik der vergangenen 50 Jahre die Arbeit der Migrations- und Integrationsorganisationen prägte. Ein Beitrag von Peter Schibli, Vorstand isa 2021

Hochkonjunktur und Wachstumseuphorie prägten die sechziger und siebziger Jahre in der Schweiz. Dem Land ging es prächtig. Ein beispielloser Bauboom kam in Gang und tendierte richtig Überhitzung. Landauf, landab wurde in Autobahnen, Wohnsiedlungen, Gewerbeareale, Tunnels und Eisenbahnstrecken investiert. Von Arbeitslosigkeit oder ausufernden Sozialkosten war weit und breit keine Spur. Die Schweizerinnen und Schweizer lebten in einem konjunkturellen Schlaraffenland.

Um die Wirtschaft am Laufen zu halten und den Wohlstand weiter auszubauen wurden mehr Arbeitskräfte benötigt, als in der Schweiz zur Verfügung standen. Vor allem im Bau-, aber auch im Gastgewerbe herrschte Personalnot. Stellensuchende Italienerinnen und Italiener, Spanierinnen und Spanier, aber auch Portugiesinnen und Portugiesen kamen wie gerufen. Weitere Arbeitnehmende holte man aus den Herkunftsländern.

Ab 1960 nahm deshalb die Zuwanderung in die Schweiz stark zu. 1950 hatte der Ausländeranteil noch 6,1 Prozent betragen. 1960 waren es bereits 10,8 Prozent, 1970 17,2 Prozent. Nie seit der Industrialisierung hatte sich die Bevölkerungsstruktur der Schweiz so rasch verändert wie in diesen Jahren.

Fremdarbeiter verlassen Zürich für die Festtage im Dezember 1964, Quelle Lampart, Bender, Hug, 2016 SGB Broschüre „Unmenschlich und wirtschaftlich schädlich – Fakten zum alten Kontingentssystem“

Mit dem explodierenden Ausländeranteil wuchsen aber auch der Betreuungs- und Integrationsaufwand für die Zugewanderten. Kontaktstellen sowie Arbeitsgruppen wurden hierfür gegründet. In diese Zeit fällt auch die Gründung der isa-Vorgängerorganisation: 1970 beauftragte das Berner Gäbelbachquartier, eine Siedlung mit hohem Ausländeranteil, den Aargauer Sozialarbeiter Rolf Geiser, ein Konzept für eine Ausländer-Anlaufstelle zu erarbeiten. Die Trägerschaft über das Projekt übernahm die «Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit VGB». 1971 nahm die «Kontaktstelle für südländische Arbeitskräfte und Schweizer» ihre Arbeit auf. Diese spezialisierte sich auf die Beratung der Migrationsbevölkerung bezüglich Arbeit, Steuern, Sprache, Schule etc. Ein Teil ihrer Arbeit bestand auch im Kampf gegen die Überfremdungsinitiativen.

Geschürte Angst vor Überfremdung

Der wachsende Wohlstand zeigte nämlich auch ein hässliches Gesicht: eine von rechtsnationalen Kreisen geschürte Angst vor Überfremdung machte sich breit. Der Begriff „Überfremdung“ war vom Zürcher «Armensekretär» Carl Alfred Schmid im Jahr 1900 geprägt worden. 60 Jahre später wurde kolportiert, dass Ausländerinnen und Ausländern den Schweizern die Arbeitsplätze wegnähmen. Tatsächlich  verrichteten die Zugezogenen Arbeiten, die kein Schweizer, keine Schweizerin machen wollte. Max Frisch sagte dazu: «Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen.» Lange vor der ersten Überfremdungsinitiative entstand so eine anti-italienische Bewegung. James Schwarzenbach, der wortgewandte Sohn eines Zürcher Textilindustriellen, verstand es, diesen Unmut politisch zu kanalisieren.

James Schwarzenbach. Quelle: Comet / ETH-Bildarchiv

Das Unbehagen gipfelte am 7. Juni 1970 in der ersten Überfremdungsinitiative, die den Anteil der ausländischen Bevölkerung in allen Kantonen auf zehn Prozent begrenzen wollte. Initiant James Schwarzenbach stand einer fast geschlossenen Ablehnung gegenüber. Bundesrat, Parlament, Parteien, Gewerkschaften, Industrie- und Wirtschaftsverbände und die Kirchen kämpften gegen die Initiative. Im Bundeshaus fand sich neben Schwarzenbach kein weiterer Parlamentarier, der seine Idee unterstützte. In der gedruckten Presse erschienen spaltenweise Appelle gegen das Volksbegehren des prominenten Demagogen. Das Sonntags-Journal publizierte eine Zeichnung von Friedrich Dürrenmatt, mit welcher der bekannte Schriftsteller die SchweizerInnen dazu aufrief, ein Nein in die Urne zu legen, «damit die Schweiz den Weg in die Zukunft einschlagen kann und nicht in einem schwarzen Bach von Selbstgerechtigkeit und reaktionärer Weltflucht versinkt.» 

1970 erlebt die Schweiz einen der härtesten Abstimmungskämpfe ihrer Geschichte. Niemand ahnt vor dem Urnengang, wie viele Anhänger Schwarzenbach hinter sich scharen konnte. Eine Annahme der Initiative wäre für die Wirtschaft fatal gewesen. Hätte das Stimmvolk die Vorlage befürwortet, wären 350 000 Ausländerinnen und Ausländer gezwungen gewesen, die Schweiz zu verlassen. Vor allem die Industrie, die 35 Prozent ihrer Belegschaft im Ausland rekrutierte, machte sich grosse Sorgen.

Die Überraschung war deshalb gross, als am Abstimmungssonntag fast 75 Prozent aller Stimmbürger an die Urnen strömten. Immerhin 46 Prozent von ihnen sprachen sich für Schwarzenbachs Überfremdungsinitiative aus, 54 lehnen diese ab. Die offizielle Schweiz atmete auf: Die Italiener durften bleiben, der Schweizer Wirtschaftsmotor war nicht gefährdet, und Volkswirtschaftsminister Ernst Brugger konnte im Bundeshaus mit Erleichterung feststellen, dass «eine Bewährungsprobe unserer Demokratie» erfolgreich bestanden worden war. 

Dürrenmatt-Zeichnung im Sonntags-Journal vom 6./7. Juni 1970. Quelle: CDN

Immer neue Initiativen

Doch Schwarzenbachs Initiative veränderte die schweizerische Politik für immer und prägte auch das Wirken der Organisationen, die sich für ein Zusammenleben von MigrantInnen und SchweizerInnen einsetzten. Die Zuwanderung wurde zu einem dominanten Dauerthema. Denn nicht nur Rechtsaussen-Anhänger hatten das Volksbegehren gutgeheissen, die Zustimmung reichte bis weit ins sozialdemokratische Lager. Bis Ende der 1980er Jahre wurde in der Schweiz über drei weitere Überfremdungsinitiativen abgestimmt, dann nahm sich die SVP des Themas an und macht es zu einer Triebkraft ihres Aufstiegs.

Am 9. Februar 2014 stimmten Volk und Stände erstmals einer Begrenzung der Zuwanderung zu. Inzwischen verfügt fast jeder vierte Einwohner im Land über einen ausländischen Pass.

Bierdeckel mit Aufschrift, Abstimmungskampf 1974.  Quelle: Sozialarchiv

Gegenbewegung «Mitenand»

Als Reaktion auf die Flut von Überfremdungsinitiativen lancierte 1973 eine aus rund 30 Organisationen und Parteien bestehende Arbeitsgemeinschaft unter dem Titel „Mitenand/Être Solidaires“ eine Volksinitiative für eine neue Ausländerpolitik. Sie forderte die Gleichbehandlung von SchweizerInnen und AusländerInnen, die Abschaffung des Saisonnier-Statuts und die Verpflichtung des Staats zur Integration der ausländischen Bevölkerung. Auch die «Berner Kontaktstelle für Ausländer und Schweizer» engagierte sich für das Volksbegehren. 1977 eingereicht, gelangte die Initiative 1981 zur Abstimmung und wurde leider mit 83,8 Prozent Nein-Stimmen deutlich verworfen. Im folgenden Jahr scheiterte auch der vom Parlament als indirekter Gegenvorschlag zur Mitenand-Initiative ausgearbeitete Entwurf für ein neues Ausländergesetz, gegen den die NA das Referendum ergriffen hatte, mit 50,4 Prozent Nein-Stimmen an der Urne knapp.

Integrationsbemühungen im Vordergrund

In den folgenden Jahren drehten sich migrationspolitische Initiativen und Referenden hauptsächlich um die Themen Asyl, Bürgerrecht und Personenfreizügigkeit. Begehren, die wie zu Schwarzenbachs Zeiten starre Ausländerobergrenzen und Einwanderungszahlen in die Verfassung schreiben wollten, kamen ab der Jahrtausendwende nur noch vereinzelt zustande und scheiterten stets deutlich: Im Jahr 2000 wurde die 18-Prozent-Initiative mit 63,8 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt, 14 Jahre später schickten die Schweizerinnen und Schweizer mit 74,1 Prozent die Ecopop-Initiative bachab.

Die Zahl der Migranten und Migrantinnen in der Schweiz stieg in den achtziger Jahren weiter an. In mehreren Berner Quartieren entstanden deshalb Kontaktstellen und Beratungsbüros. 2001 schloss das Bundesamt für Migration mit der isa einen Leistungsvertrag ab. Als «Kompetenzzentrum Integration» bot diese fortan Dienstleistungen und Projektberatung an. 2002 änderte die isa ihr Erscheinungsbild und trat neu unter dem Namen «Informationsstelle für Ausländerinnen und Ausländerfragen» auf. 2003 schloss die Erziehungsdirektion des Kantons Bern mit der isa einen Leistungsvertrag und subventionierte das Kursangebot. 2007 erwarb die isa für ihr Kursangebot das eduQua-Zertifikat.

Derzeit (2021) beträgt der Ausländeranteil in der Schweiz 25 %. Die drei grössten Migrantengruppen sind die Italiener (16,7%), gefolgt von den Deutschen (15,5 %) und den Portugiesen (12,5%). Noch immer arbeiten AusländerInnen in traditionell eher schlecht bezahlten Bereichen (Reinigung, Industrie, Hauswirtschaft, Pflege, Bau). Aber es kommen immer mehr gut ausgebildete Arbeitskräfte in die Schweiz (Ärzte, Forscher, Hochschuldozenten). Dies vor allem deshalb, weil die Schweiz im akademischen Bereich nicht genügend Nachwuchs ausbildet.