Digitale Festschrift 50 Jahre isa – Schweizerische Inklusionspolitik im europäischen Vergleich

Die Schweiz gehört zu den Ländern in Europa, die nur wenige Vorkehrungen treffen, um die langfristige Stabilität des Aufenthalts und die Teilhabe der ansässigen Migrant*innen zu fördern. Autorin: Nicole Wichmann, 2021

Im Vergleich mit den EU-Staaten bietet die Schweiz einerseits den hier lebenden Migrant*innen einen guten Zugang zum Gesundheits- und Bildungsbereich. Anderseits verzichtet sie darauf, ihnen eine längerfristige Bleibeperspektive zu bieten. Ein schwacher Diskriminierungsschutz und hohe Hürden beim Zugang zum Bürgerrecht bilden gemäss den internationalen Expert*innen die grössten Hindernisse zur gleichberechtigten Inklusion1 der anwesenden Migrant*innen. Nach kurzer Vorstellung des zugrundeliegenden Instruments, des Migrant Integration Policy Indexes (MIPEX), der die Inklusionspolitik von 52 Staaten auf acht Dimensionen vergleicht, werden die aktuellsten Schweizer Resultate kurz diskutiert.

Grundsätzliches zum Vergleich als Methode

Der Vergleich als Methode ist für die Sozialwissenschaften grundlegend. Der systematische Vergleich dient dazu, durch die Gegenüberstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Erkenntnisse zum Zusammenhang zwischen zwei Phänomenen zu erlangen. Die zentrale Herausforderung im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik besteht darin, Gleiches mit Gleichem zu vergleichen, damit nicht am Ende ein Vergleich von Äpfeln und Birnen resultiert. Zweifelsohne spielen in der Migrations- und Inklusionspolitik historische und kulturelle Prägungen eine starke Rolle. Aus diesem Grund argumentieren die Gegner des vergleichenden Ansatzes, dass jeder Staat als Einzelfall zu betrachten und auf den Vergleich zu verzichten sei. In den letzten Jahren setzt sich indes die Erkenntnis durch, dass der systematische Vergleich von Migrations- und Integrationspolitiken dazu beitragen kann, um die Politik eines einzelnen Staates zu verstehen und deren Effekte zu beurteilen.

Internationale Indizes zum Vergleich von Migrationspolitiken

Um staatliche Inklusionspolitiken systematisch zu vergleichen, haben Migrationsforschende eine Reihe von Indizes (Verzeichnissen mit Messdaten) entwickelt. Die am weitesten verbreiteten Indizes sind der Immigration Policies in Comparison Index (IMPIC Index) und der Migrant Integration Policy Index (MIPEX), welche die Einwanderungspolitiken der OECD Staaten und einiger anderer Staaten umfassend vergleichen. Es gibt neben diesen globalen Indizes auch solche, die nur Teilaspekte der Migrationspolitik abdecken. So vergleichen z.B. die Citizenship Law Indicators die Einbürgerungspolitiken oder die Electoral Law Indicators die Bestimmungen zum Ausländerstimmrecht ausgewählter Staaten.

Die Indizes beruhen auf standardisierten Fragebogen, die eine federführende Organisation (in den meisten Fällen Universitäten oder Nichtregierungsorganisation) an Expert*innen in den teilnehmenden Staaten schickt. Im Falle des MIPEX fungiert das Schweizerische Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien der Universität Neuchâtel als Kontaktstelle für die Schweiz. Die nationalen Expert*innen werden gebeten, die nationale Gesetzgebung bzw. Umsetzungsbestimmungen anhand spezifischer Kriterien und Fragen zu bewerten. In einem solchen Fragebogen wird z.B. abfragt, wie viele Jahre eine Person in einem Land gelebt haben muss, bevor sie ein Einbürgerungsgesuch stellen kann. Die Antworten der teilnehmenden Expert*innen werden anschliessend in einer Datenbank gesammelt und durch die koordinierende Stelle aufbereitet. Am Ende wird in der Regel eine Rangliste erstellt, die aussagt, wie restriktiv bzw. liberal ein Staat im Vergleich mit den anderen untersuchten die Staaten die Teilhabe von Migrant*innen ausgestaltet.

Der Migrant Integration Policy Index – MIPEX

Zum Vergleich der Inklusionspolitiken der europäischen Staaten eignet sich der MIPEX, Migrant Integration Policy Index besonders gut. Der MIPEX ist ein mehrdimensionaler Index zur standardisierten Erfassung der Migrations- und Integrationspolitiken in aktuell 52 Ländern. Bei der ersten Ausgabe, im Jahre 2004, haben lediglich die 15 EU-Mitgliedstaaten mitgemacht, aber inzwischen umfasst der Index sämtliche europäische Staaten sowie Staaten aus Nord- und Südamerika sowie Ozeanien. Im Fokus steht bei MIPEX der nationale Rechtsrahmen und die Umsetzungspraxis. Im Falle der EU/EFTA-Staaten werden lediglich die Bestimmungen betrachtet, die den Aufenthalt von Staatsangehörigen von ausserhalb des EU/EFTA-Raumes regeln.

Der Vergleich der Inklusionspolitiken umfasst acht Dimensionen:

  • den Zugang zum Arbeitsmarkt,
  • den Zugang zum Gesundheitssystem und Bildung (vor allem Schulen),
  • die Erteilung der Niederlassung,
  • die Möglichkeiten zur Einbürgerung,
  • den Umgang mit politischer Partizipation,
  • die Möglichkeiten zum Familiennachzug und
  • den Schutz vor Diskriminierung.

Grundsätzlich gilt, je grosszügiger ein Staat den Migrant*innen in seinem Staatsgebiet Zugang zu diesen verschieden Rechten und Dienstleistungen gewährt, desto besser platziert er sich auf der Rangliste von MIPEX.

Die staatlichen Stellen werfen dem MIPEX häufig vor, zu stark normativ ausgerichtet zu sein. Es stimmt, dass MIPEX mit der empirischen Beschreibung aktueller Politiken und deren Vergleich implizit vorgibt, welche Richtung diese Politiken anzustreben haben. Der MIPEX orientiert sich dabei an verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben und Grundprinzipien und wertet entsprechend ausgerichtete Politiken höher. In diesem Sinne werden Politiken, die z.B. die Grundrechte oder die Partizipation der ausländischen Wohnbevölkerung stärken, positiv bewertet, während Zugangsbeschränkungen negativ zu Buche schlagen. Die positive Beurteilung der partizipationsförderlichen Massnahmen fusst aber auch auf wissenschaftlich erhärteten Erkenntnissen. So kommen z.B. mehrere Studien zum Schluss, dass eine liberale Staatsbürgerschaftspolitik ein wirkungsvolles Instrument ist, um die ökonomische und soziale Position von Migrant*innen zu verbessern (z.B. Hainmüller et al. 2019). Die positive Beurteilung einer liberalen Einbürgerungspolitik beruht also auf empirischen Forschungsarbeiten, die entsprechende positive Effekte festgestellt haben.

In der aktuellen MIPEX Rangliste von Ende 2020 belegt die Schweiz Platz 25. Die vorderen Ränge belegen Schweden, Finnland und Portugal und die traditionellen Einwanderungsstaaten Kanada, USA, Neuseeland und Australien, die den anwesenden Migrant*innen weitgehende Partizipationsrechte bieten. Diese Staaten gewähren den Migrant*innen einen gesicherten Aufenthaltsstatus und eine weitgehend gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben. In einer zweiten Gruppe folgen die meisten EU-Staaten wie Deutschland, Holland oder Frankreich. Die Schweiz befindet sich mit Österreich und Dänemark in einer Gruppe von Staaten mit eher «ungünstigen» Rahmenbedingungen für die Inklusion von Migrant*innen. Die Schlusslichter bilden die Staaten in Osteuropa und die meisten asiatischen Staaten. Dort werden Migrant*innen entweder in der Praxis oder rechtlich schlechter gestellt als die eigenen Staatsbürger*innen.2

Ungünstige Rahmenbedingungen zur Inklusion in der Schweiz

Vergleicht man die Migrationspolitik der Schweiz mit den EU-Mitgliedstaaten, fällt auf, dass die Schweiz den Migrant*innen einen vergleichsweise liberalen Zugang zum Gesundheitssystem und zum Arbeitsmarkt gewährt. Im Gesundheitsbereich wurden in den letzten Jahren einige innovative Projekte lanciert, so z.B. das Online Portal migesplus, welches dieser Zielgruppe mehrsprachig umfassende Gesundheitsinformationen zur Verfügung stellt. Demgegenüber identifiziert die Studie zwei Hauptdefizite der schweizerischen Inklusionspolitik: schwachen Schutz vor Diskriminierung und sehr hohe Hürden für die Einbürgerung.

Der schwache Diskriminierungsschutz widerspiegelt die realen Verhältnisse in unserem Land und legt den Schluss nahe, dass dieser mangelhafte Schutz vor Diskriminierung politisch gewollt ist (siehe D’Amato et al. 2021 oder Wichmann 2019). Dass gesetzliche Lücken bestehen und Personen in der Schweiz diskriminiert werden, ist auch durch empirische Studien zur Situation auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt dokumentiert (nccr – on the move 2019). Internationale Gremien, wie z.B. die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, ECRI, und das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte empfehlen der Schweiz denn auch seit Jahren, die bestehenden Rechtslücken zu beheben.

Ein zweites Hindernis zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Schweiz stellen die hohen Hürden bei der Einbürgerung dar. Mit dem Inkrafttreten des neuen Bürgerrechtsgesetzes 2018 wurde zwar die Aufenthaltsdauer von zwölf auf zehn Jahre reduziert. Zugleich wurden aber die Bedingungen in anderen Bereichen (erforderliche Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnisse, Teilnahme am Wirtschaftsleben etc.) erhöht, womit der Zugang zum Bürgerrecht insgesamt hürdenreicher geworden sind. Die Bedingungen zur Einbürgerung sind im europäischen Vergleich sehr restriktiv, was sich laut den Expert*innen negativ auf die Inklusion der anwesenden Migrant*innen auswirkt. Die anspruchsvollen Bedingungen beim Zugang zum Bürgerrecht und die verschärften Bestimmungen betreffend die Niederlassung von Drittstaatsangehörigen im Ausländer- und Integrationsgesetz (siehe Chukwunyere 2021) sind Ausdruck davon, dass die Schweiz weiter die wirtschaftlichen Vorteile der Migration nutzen will, während die langfristige Integration und Niederlassung nicht erwünscht ist. (swissinfo 2020). Dies gilt im besonderen Masse für die Zulassung und den Aufenthalt von Angehörigen aus Drittstaaten, während der Rechtsstatus der EU/EFTA-Staatsangehörigen sich seit Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitabkommens vor bald 20 Jahren stark verbessert hat. Der Rechtsstatus letzterer wird bei MIPEX nicht betrachtet. Augenfällig ist in diesem Zusammenhang die Kontinuität, die die Schweizerische Einwanderungspolitik seit 50 Jahren prägt, wobei die Überfremdungsängste ein Dauerthema sind (siehe Schibli 2021) .

Vielfalt der Regelungen in der Schweiz

Bei der politischen Teilhabe und beim Zugang zu Bildung (vor allem in den Schulen) situiert sich die Schweiz genau im europäischen Durchschnitt. Der Grund hierfür mag daran liegen, dass die Bedingungen in diesen Bereichen auf der kantonalen Ebene bestimmt werden. Die Kantone besitzen bei der Umsetzung einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum, wie aktuelle Studien zu dem Thema zeigen (Probst et al. 2019). Da der Fokus der internationalen Indizes auf der nationalen Ebene liegt, ist es schwierig, die Situation umfassend darzustellen. Um einen besseren Einblick in die föderale Vielfalt zu erhalten, haben Schweizer Forschende Instrumente entwickelt, welche die kantonalen Politiken miteinander vergleichen. Ein Beispiel hierzu sind die Kantonsporträts, welche die wichtigsten Kennzahlen zu Migration, Integration, Demographie und politischen Einstellungen zusammenfassen. Die Swisscit Indikatoren vergleichen die Einbürgerungs- und Integrationsbestimmungen der Kantone miteinander und zeigen auf, wie inklusiv die Bestimmungen in den Kantonen ausgestaltet werden. Da die Vielfalt der Umsetzungsmöglichkeiten dennoch beschränkt ist aufgrund der vergleichbaren nationalen Rahmenbedingungen (v.a. AIG und Bürgerrecht), gehen wir davon aus, dass die Betrachtung einzelner besonders liberaler Kantone, so z.B. Neuchâtel, oder restriktiver Kantone, so z.B. Aargau, die Position der Schweiz auf der Rangliste nicht wesentlich verändern würde.

Zum Schluss sei den Leser*innen ein Blick in die verschiedenen Instrumente empfohlen, da sie interessante Einblicke in die Migrationspolitik der Schweiz und in diejenige anderer europäischer Staaten bieten.

Weiterführende Lektüre:

D’Amato Gianni, Denise Efionayi-Mäder und Didier Ruedin, Was wir aus dem MIPEX 2020 lernen können (und was nicht). blog nccr – on the move (1. Dezember 2020).

Romy, Kati, Aussereuropäische Migranten in der Schweiz vor unsicherer Zukunft. Auf swissinfo.ch vom 10. Dezember 2020.

Anmerkungen

1 «Inklusion zielt darauf ab, strukturelle (rechtliche) Rahmenbedingungen zu schaffen, die benachteiligende Ausgangslagen ausgleichen können und Partizipation ermöglichen (Georgi 2015: 26)». Da MIPEX sich vor allem auf die strukturellen Rahmenbedingungen zur Teilhabe von «Migrant*innen» fokussiert, verwende ich in diesem Beitrag den Begriff Inklusion statt Integration. Inklusion hat sich im Bereich der Behindertenarbeit und im Bildungsbereich durchgesetzt. Hingegen wird im Migrationsbereich meistens von Integration gesprochen.

2 Rangliste von swissinfo aufbereitet: https://www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/aussereuropaeische-migranten- in-der-schweiz-vor-unsicherer-zukunft/46215706 (konsultiert am 26. April 2021)